Sonntag, 19. Juni 2011

Christiane F. lässt grüßen

Nach dem Besuch beim Arzt am Mittwoch sehe ich noch ein wenig zerstochen aus. Drei Blutentnahmen innerhalb von 2 Stunden hinterlassen eben Spuren. Aber keine Details, das möchte ja nun wirklich niemand hören, nur soviel: Es war einem Test auf Schwangerschaftsdiabetes geschuldet, ich bin weiterhin nicht krank sondern putzmunter, genau wie der wild strampelnde Nachwuchs.
Ich hatte ja gehört die ersten drei Monate des Referendariats in Hamburg seien recht entspannt, was sich auch in der Tat so darstellt. Der meiste Stress entsteht durch die Seminarnachmittage, den ganzen Schuleingewöhnungskram hatte ich mehr oder weniger schon im letzten halben Jahr, als ich von der Uni kommend ein bisschen ins kalte Wasser gestoßen wurde. Sehr lehrreich, wie ich heute finde. Jedenfalls geschieht gerade in den letzten Schulwochen nicht mehr viel, sodass ich das Warten auf die nächste Zeugniskonferenz mal wieder mit Zeitungslektüre verbringen konnte. Ok, keine schön knisternde, schwer wieder zusammenfaltbare Zeitung, sondern nur die Onlineausgaben. Ein paar Leseempfehlungen möchte ich daher hier aussprechen.

Zum Einen stieß ich auf einen Artikel zu einem Bildband über russische Kinder (neu)reicher Eltern.
Heute lernt die gehobene Gesellschaft Russlands – wie so viele – also nicht mehr Französisch, sondern setzt ihren Kindern englische Nannys vor. Das Phänomen der komplett ausgebuchten Tage zieht sich in anderen Gesellschaften sicherlich auch durch andere Milieus, wie immer bleibt dabei die Frage: Soll das das bessere Leben sein, welches die Eltern ihren Kindern angeblich angedeihen lassen wollen? Regelrecht betont wird in dem Artikel 
", dass es keine Tradition gibt, deshalb formen die Menschen sich und ihre Umgebung jeden Tag neu.“ 
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Behauptung in der Form richtig ist.

Einen besonders amüsanten Leserkommentar verfasste ein Herr Franz Müller unter einem FAZ-Artikel über das diesjährige WGT: 
Für mich ist dieses Treffen nichts weiter als eine weitere Narrenveranstaltung wie etwa Fastnacht, Homosexuellendemos, Halloweentreiben und so weiter. Veranstaltungen dieser Güte nehmen rapide zu. Denen fehlt's an Arbeit, vermute ich, oder haben Sie schon mal jemanden mit einer solchen Frisur an einer Arbeitsstelle arbeiten gesehen?“
Im Gegensatz zu manch anderen Lesern, die sich gleich verbal auf den werten Herrn stürzten, lass ich seine Meinung einmal unkommentiert stehen. Schließlich soll jeder das Recht haben, sich lächerlich zu machen.

Besonders sauer stieß mir ein Artikel über die Verschulung des Hochschulwesens auf.
Wenn wir die üblichen Klagen über das böse G8-Abitur einmal beiseite lassen – auch in meiner neuen Heimat quittiere ich es meistens nur mit einem spöttisch verzogenen Mundwinkel – waren einige der geschilderten Tendenzen auch in meiner Studienzeit zu beobachten, auch wenn ich noch in einem „alten“ Studiengang war. In dem Artikel kommt gut zur Geltung, dass die beschriebenen Phänomene nicht selten von den Studenten selbst ausgehen: 
Einige wollen von den Dozenten gern geduzt werden, aber Siezen natürlich ihren „Lehrer“.“ 
Wie bitte? Ich dachte bisher die gerade erst die Schule verlassenden Menschen wollen endlich erwachsen sein und auch so behandelt werden? Doch anscheinend siegt die Bequemlichkeit, das aus der Schulzeit bekannte Geduztwerden, über den Anspruch als Erwachsener ernst genommen zu werden. Dies komm mir allerdings wie ein Spiegel der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung vor, IKEA ist überall. Jetzt klinge ich gar für meine Ohren sehr spießig, oder ist das eine verzerrte Wahrnehmung? Doch der Peinlichkeiten nicht genug: 
„Die Mails beginnen mit der Anrede „Sehr geehrter Herr Dr.“ und schließen mit „Lieben Gruß, Anja“.“ 
Da sitzt man 5 Minuten da und grübelt über die richtige Grußformel an seinen Dozenten, dabei könnte die Welt so einfach sein. „LG“ ist ein Massenphänomen, das sich unaufhaltbar ausbreitet wie jüngst die Horrormeldungen über EHEC in Hamburg. Ich habe diese Art Grußformel selbst auch schon in Mails von Schülern, aber auch von einem Seminarleiter bekommen. Also wer passt sich hier eigentlich wem an? Auch eine weitere Klage ist nicht neu: 
Anpassung steht hoch im Kurs, aber die Aufforderung, selbständig zu arbeiten, erzeugt oft unverhältnismäßige Ängste. In der Evaluation werden Dozenten nicht selten dafür bestraft, weil sie Studierende dazu zwingen, selbst ein Thema für die Hausarbeit zu wählen und sich selbst die Literatur zu suchen. Selbstorganisationszumutungen werden als Selbstorganisationsüberforderung erlebt, weil die Schülerrolle sehr viel passiver definiert ist als die eines Studenten. Dozenten behandeln (spätestens) in den Masterstudiengängen die Studierenden aber erst einmal als Erwachsene, oft zum Leidwesen ihrer „Schüler“.“ 
In gewisser Weise sehe ich hier einen Widerspruch zwischen den neu formulierten (kompetenzorientierten!) schulischen Anforderungen und den Entwicklungen an der Uni. Theoretisch sollen die Schüler gerade in der Studienstufe, wie sie hier heißt, auf das selbstständige Arbeiten vorbereitet werden, praktisch kommt das Ganze jedoch zu oft zu kurz, wie ich des Öfteren bei „meinen“ 12ern im letzten Schuljahr erleben durfte. Wenn selbst in der mündlichen Abiturprüfung noch ein fehlerhaftes Quellenverzeichnis vorgelegt wird, sind die einfachsten Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens, wie sie wohl in dem eigens geschaffenen „Seminar“ der Profiloberstufe gelehrt werden sollen, noch nicht auf fruchtbaren Boden gefallen Nur: kann man hierfür wirklich allein die Schüler verantwortlich machen? Wohl kaum. Hier müssen sich auch die Lehrer selbstkritisch an die eigene Nase fassen, schließlich sollen Abiturienten besser auf das Studium vorbereitet werden, wie es immer wieder als Anforderung an die Schulen herangetragen wird. Was meiner Meinung nach ein wenig zu kurz kommt, ist die studentische Anpassung an das von der Uni entworfene modularisierte Studium. Berufserfahrung vor dem Studium zu verlangen, wie es im Artikel getan wird, ist sicherlich kein Allheilmittel, manchmal kann ein Mensch auch nur selbstständig werden, wenn es von ihm überhaupt verlangt wird, was stellenweise in der Uni immer weniger der Fall ist. Bachelorstudenten wurden bei uns schon früh darauf abgerichtet, in einem Seminar zunächst nach den erreichbaren Credits und den Anforderungen dafür zu fragen und sich genau danach zu richten, was in seitenlangen Verordnungen steht. Das ist jemandem, der möglichst erfolgreich ein Studium absolvieren will, wohl kaum zu verübeln. An einer Stell möchte ich dem Autor widersprechen: Schwänzen ist für mich keine schulische Verhaltensweise, sondern auch ein Ausdruck persönlicher Freiheit, um mal pathetisch zu werden: Wer fehlt, muss eben das Verpasste nachholen, Punkt. Studenten sollte es möglich sein, dies selbst zu entscheiden, die Schulpflicht ist dann vorbei.

Im Spiegel stieß ich außerdem auf einen Bildband über die Architektur Pjöngjangs. Geradezu gespenstisch wirken einige Bilder von sozialistischen Monumentalbauten, teilweise mit fernöstlichem Einschlag. Dem Fotografen ist zugute zu halten, dass er es geschafft hat, auch den grauen, bröckelnden Alltag einzufangen, sodass das Projekt nicht zu einem „Auch in kommunistischen Diktaturen gibt es schöne Ecken“-Bildband verkommt. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, möge dies hier tun.

3 Kommentare:

  1. Ich mache mal den Versuch aus der Sicht eines "uralten" (nämlich 50jährigen...) einen Kommentar in die Runde zu werfen!Zu dem Artikel über den Bildband über russische Kinder (neu)reicher Eltern hatte ich ja schon bei facebook was geschrieben.Bei dem zweiten hier angesprochenen Artikel bleiben mir beim Lesen die Worte im Halse stecken.....so blödsinnig sind die angeführten Argumente des Autors!Der erste Kommentar auf diesen Artikel,der online gestellt wurde,ist eine sehr richtige,einiges geraderückende Antwort auf den abgesonderten Unfug gegeben worden!

    AntwortenLöschen
  2. Ergänzung:Man verzeihe mir den Fehler im letzten Satz des ersten Kommentars ( das Alter ;-) )!
    Das eigentliche Kernproblem des deutschen Bildungssystems sind doch die chronische Unterfinanzierung,die zu einer zu großen Klassen- bzw. Seminargruppenstärke führt,zu wenige gut ausgebildete Lehrkräfte aller Ebenen,die unsägliche Zersplitterung des deutschen Schulsystems und einige weitere Gründe!

    AntwortenLöschen
  3. Da aller guten Dinge ja bekanntlich drei sind noch eine Bemerkung: Wild strampelnder Nachwuchs kommt mir sehr bekannt vor und läßt die Vorfreude eines werdenden Großvaters ins Uferlose steigen.......Ich hoffe,Euch mal in Hamburg noch in diesem Jahr besuchen zu können!

    AntwortenLöschen